Ich weiß z.B. auch nicht was passiert, wenn eines Tages kein Pflegedienst mehr bereit ist, die Versorgung zu übernehmen. Und je kleiner der Ort, desto weniger Pflegedienste kommen überhaupt in Frage. Können Pflegedienste zwangsverpflichtet werden?
Nein, man kann Pflegedienste nicht zwingen, einen Patienten zu betreuen, nicht gegen dessen Willen.
Zu meiner Ausbildung gehörte meinerzeit ein Pflichteinsatz im ambulanten PD. Wir übernahmen einen Patienten, der am Tag zuvor aus dem Krankenhaus entlassen wurde, mit dem Auftrag, einzukaufen, Medikamente beim Arzt zu besorgen und diese zu richten und zu verabreichen. Der Patient war ein älterer netter Opi, allein in seinem viel zu großen Haus lebend.
Am nächsten Tag erhielten wir zu Dienstbeginn von unserer Chefin die Information, dass die Betreuung des Patienten sofort zu beenden sei: Man hatte uns bewusst verschwiegen, dass der Patient bereits 5 andere Pflegedienste verschlissen hatte, die alle von sich aus gekündigt haben, weil sie um ihr Leben fürchteten. Der Patient war suspendiertes Mitglied im örtlichen Schützenverein, besaß ein Arsenal an scharfen Waffen von Pistole über Jagdgewehr bis zu Präzisionsgewehren, und sei seit Jahren in der Nachbarschaft bekannt, seine Umgebung mit dem Tode zu bedrohen und auch gerne mal mit der Waffe im Anschlag auf dem Balkon zu stehen und umherlaufende Personen oder Autofahrer ins Visier zu nehmen. Eine Beschlagnahmung der Waffen durch die Polizei lehnte er selbstverständlich ab.
Die Information kam von der Tochter des Patienten selbst, die gemeinsam mit ihren 5 Geschwistern jeden Kontakt zum Vater abgebrochen hatte, weil auch sie von ihm bedroht wurden.
Unsere Chefin bestand auf einem persönlichen Gespräch, sah sich aber leider, leider nicht in der Lage, das selbst zu übernehmen. Meiner Kollegin und mir gebührte ergo die ehrenvolle Aufgabe, dem Patienten von Angesicht zu Angesicht diese Nachricht zu überbringen. Ich gebe ehrlich zu, dass ich noch nie in meinem Leben solche Angst verspürt habe wie an dem Tag, als wir vor seiner Haustür standen und warteten, dass sich die Türe öffnete. Am liebsten hätte ich ins Beet gekotzt, bevor mir die Beine den Dienst versagten.
Der Patient öffnete liebenswürdig wie am Vortag die Tür, bemerkte aber unsere blassen Gesichter. Drinnen konnte ich ihm nicht den Blutzucker messen, meine Hände zitterten derart, dass ich mit dem Teststreifen nicht mal sein Ohr traf. Die Botschaft, die wir ihm überbrachten, nahm er in gefährlicher Ruhe hin: Ob wir etwa den Gerüchten glaubten, dass er durch seine Waffen gefährlich sei? Wer habe ihn diffamiert? Ein Verhör begann, wir durften freilich nichts sagen.
Nachdem wir das Haus verlassen hatten, fuhren wir, unsere weiteren Patientenaufträge ignorierend, zurück in die Zentrale und meldeten uns beide für diesen Tag ab. Noch am Abend suchten mich Panikattacken heim. Am nächsten Tag landete ich erst beim Hausarzt, dann in der psychiatrischen Institutsambulanz.
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Ein Jahr später hatte ich meinen Pflichteinsatz in einer Psychiatrie. Ratet mal, wer dort als Patient einsaß. Beim Lesen seiner ellenlangen Krankenakte jagte mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Das Sahnehäubchen von allem war laut Polizeibericht eine scharfe Handgranate, die man bei der gerichtlich angeordneten Beschlagnahmung seiner Waffen in der Schublade seines Nachttischchens gefunden hatte.
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Was möchte ich mit dieser viel zu lang geratenen Anekdote sagen? Kein Pflegedienst dieser Welt kann verpflichtet werden, einen Patienten zu betreuen, wenn dieser es ablehnt oder die Zustände unzumutbar sind. Hier ist nur eine gerichtliche Betreuung und/oder medizinisch-psychiatrische Begutachtung sinnvoll, damit der Patient sein Leben und seine Gesundheit wahren kann.